Das „Hänschenklein-Trauma“ ist eine der schwerwiegendsten patriarchalen Grundverletzungen des Jungen (siehe Die patriarchalen Grundverletzungen (Teil 1) ). Sie ist nach dem kleinen „Hänschen“ des allseits bekannten Kinderliedes benannt, weil es für ihn und seine Mutter genau den Kern der Sache trifft: „Doch die Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr…“ (der plötzlich ganz allein in die weite Welt ziehen muss).
Ja, in unseren vorherrschenden Vater-Mutter-Kind-Familiensystem verabschieden sich die Söhne in aller Regel von ihren Müttern, dem Volksmund nach „Söhne verliert man, Töchter gewinnt man“. In dem scheinbaren Dilemma, entweder die enge Bindung zur eigenen Mutter, oder aber die anstehende Mannwerdung aufgeben zu müssen, entscheiden sich die meisten Männer gegen die Mutter, da sie unter patriarchalen Lebensumständen sonst weder Anerkennung in der Gesellschaft, noch eine Partnerin finden. Man denke z.B. an den demütigenden „Muttersöhnchen“-Vorwurf. Niemand käme auf die Idee einen Mann „Vatersöhnchen“ zu nennen, nur weil er einigermaßen unselbständig in dessen Fußstapfen tritt.
Der gesellschaftliche Druck zu diesem Ablöseprozess ist gewaltig, insbesondere wird er verstärkt vom Partner der Mutter, der meistens identisch mit dem biologischen Vater ist, da der Sohn zunehmend stärker als ein (scheinbarer) Konkurrent in Erscheinung tritt. Das patriarchale Dogma wirkt von frühester Kindheit an, wo die Jungen an den drohenden Abschied gewöhnt werden. In vielen Kulturen wird diese Loslösung sogar noch durch körperlich verletzende Initiationsriten, wie z.B. der Beschneidung oder andere traumatisierende Rituale gewaltsam forciert. Die seelische Verletzung wird durch diese körperliche Verletzung untermauert und noch endgültiger gemacht. Und wie viele Söhne versprechen vor dieser Loslösung ihrer Mama doch hoch und heilig sie später einmal zu heiraten – oder auch niemals eine fremde Frau zu heiraten, um immer bei der Mama bleiben zu können.
Doch ihr Wille wird langsam gebrochen im Dauerbeschuss der patriarchalen Grundverletzungen. Ein Mann muss eben hart sein und der Beweis ist, dass er das feste und innige Beziehungsband zur Mutter zerschneiden kann oder aber allenfalls einen dünnen, ausgeleierten Faden davon übrig lässt. Der eigene Schmerz dabei wird innerlich abgespalten, dissoziiert. Die Härte bleibt, solang der Schmerz nicht verarbeitet wird und eine Aussöhnung mit der echten Mutter, oder aber wenigstens mit der verinnerlichten Mutter erfolgt.
Die Abkehr von der Mutter ist immer auch eine Abkehr vom Weiblichen und den darin verankerten, mütterlichen Werten, wie z.B. Bedingungslose Liebe, Fürsorglichkeit, Gemeinsinn, Gleichwertigkeit, Nachsicht, usw. Demgegenüber steht im Patriarchat Annerkennung, Egoismus, Konkurrenz, Hierarchiedenken sowie das Recht des Stärkeren. Siehe hierzu bitte auch zurückliegenden Blog-Artikel Das duale Wertesystem im Patriarchat. Die Abkehr von mütterlich weiblichen Werten reicht bis hin zur absoluten Verachtung derselben und löst beim Mann eine erhebliche Identifikationsstörung aus. Ein prototypischer Mann könnte sich vermutlich eher mit einem männlichen Hund identifizieren, als ausgerechnet mit einer Frau, der er sich seit seiner patriarchalen „Mannwerdung“ zwangsläufig dem Wesen nach fremd fühlen muss.
Selbst Sigmund Freud, der geistige Urheber der Psychoanalyse, hat die Ablösung von der Mutter als notwendigen quasi naturgegebenen Schritt zur Mannwerdung angesehen. Dieses patriarchale Dogma wurde geglaubt und selbst von großen Geistern selten hinterfragt. Dabei ist es meiner Meinung nach der Ursprung so vieler seelischer Störungen und eine wesentliche Triebfeder patriarchaler Gewalt und Härte. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Genevieve Vaughan in “Heterosexism and the Norm of Normativity“, 2007.
Wie ich im Blog-Artikel Die Patriarchalen Grundverletzungen (Teil 2) bereits erwähnt hatte, sehe ich die beim Mann auffallend häufig auftretenden sexuellen Perversionen ebenfalls als Symptome der Abspaltung mütterlicher bzw. weiblicher Persönlichkeitsanteile und somit auch als eine Folge der patriarchalen Abkehr von der Mutter. Diese Perversionen, die häufig mit der Erniedrigung vor dem Weiblichen (z.B. Aufsuchen einer „Domina“) oder aber mit heimlicher Identifikation mit dem Weiblichen (z.B. Frauenkleider anziehen, Fetischismus) zu tun haben, wirken zwar kompensatorisch, sind aber auf Dauer nicht heilend, sondern halten die innere Spaltung sogar langfristig aufrecht. Männer, die ihrer Perversion regelmäßig ungehindert nachgehen können, führen oft ein „normales“ bzw unauffälliges Leben und treten außerhalb ihres Intimlebens sogar betont männlich auf. Doch die Heilung liegt nicht in einer zeitweisen Unterwerfung unter das Weibliche, sondern in dessen gesunder Integration in die männliche Seele.
In der Konsequenz findet man bei Frauen in weit geringerem Maße analoge Formen von Perversionen, die sich wie beim Mann auf das andere Geschlecht beziehen. Vielmehr entwickeln sich bei ihr solche Perversionen, die auf die schwerste patriarchale Verletzung der Frau ausgerichtet sind: die Sexualisierung des weiblichen Geschlechts und die Reduktion auf das Körperliche. Infolgedessen entwickeln sie häufig Esstörungen, wie z.B. Magersucht, Adipositas, zwanghafte Schönheits-OPs, oder Schmink-, Schmuck- oder Kleidungsfetische.
Bei Töchtern findet man in der Regel auch kein „Hänschenklein-Trauma“ vor: Weil Töchter trotz patriarchalen Familienspaltung (siehe Artikel Familiäre Diskontinuität) eine enge Bindung wenigstens zur Mutter (oft auch zu Geschwistern) aufrechterhalten, leiden sie häufig unter Loyalitätskonflikten zur Herkunftsfamilie einerseits und zur neuen Familie andererseits. Sie sitzen unbequem und nicht selten schmerzvoll zwischen zwei Stühlen und sind die Puffer für die entstehenden Interessenskonflikte.
Nicht auszudenken wie eine Welt aussehen würde, in der Mütter ihre „Hänschen“ nicht in die Welt schickten um die Welt zu erobern und Kriege zu führen, sondern zu Hause behielten um sie ihre Töchter und ihre Enkelkinder beschützen zu lassen…
Herzlichst,
Euer Anatol
(c) all rights reserved by Robert Anatol Stein, 2013
….die Söhne um sich behalten, die Töchter auch und sich aneinander freuen und entwickeln!
:-). wieviel Ruhe und Verbindung könnte da entstehen!