Wenn ich hierzulande durch die Landschaft spaziere, bemerke ich häufig, dass große, wirklich alte Bäume geschlagen werden, die augenscheinlich vollkommen gesund waren. Mal mag es sein, dass irgendein Flächennutzungs- oder Bebauungsplan dort den Verlauf einer neuen Straße oder den Standort eines Gebäudes vorgesehen hat, mal soll eine Straße verbreitert werden. Andernorts will man damit angeblich „Sichtachsen“ schaffen, wieder woanders will man schlichtweg Holz verkaufen, weil die Gemeindekassen leer sind. Jedes Mal bin ich deswegen wirklich sehr traurig, weil hiermit ein großes, ehrwürdiges Lebewesen einfach so getötet wird und jedes Mal frage ich mich, warum wohl der Mann mit der Motorsäge anscheinend nichts Vergleichbares empfunden hat, was ihn von dieser Tat abgehalten hätte. Sicher gibt es auch Stürme, Erdbeben, Dürreperioden oder Schädlingsplagen, die einem Baum ein Ende bereiten können, aber dies hier ist notlose Gewalt gegen die Natur. Teilweise werden sogar ganze Landschaften vernichtet, z.B. im Tagebau. Genauso empfinde ich gegenüber Tieren, die in unwürdigsten, naturfernen und krankmachenden Bedingungen auf kleinstem Ort zusammengepfercht gehalten werden. Sie stehen in ihren eigenen Fäkalien und oft werden Sie unter größten Schmerzen gemästet (oder sogar „gestopft“) nur um dann einem sehr baldigen Tod entgegenzusehen. Kennen Sie die Bilder aus Schlachthäusern in denen lebende Rinder (oft misslingt die sofortige und schnelle Tötung) unter lautem Brüllen mit einem elektrischen Kreismesser bei lebendigem Leibe zerlegt werden? Die Schlächter haben sich davon in keiner Weise beeindruckt gefühlt. Ich kann nicht nachvollziehen, wieso manche Menschen kein Erbarmen kennen. Wäre ich nicht bereits seit 15 Jahren Vegetarier, ich wäre es spätestens nach diesen Aufnahmen geworden. „Humanes“ Schlachten gibt es nicht.
Anderenorts wird hochoffiziell Müll vergraben, Abwasser ins Meer gekippt, Abgase in die Luft geleitet. Ich habe mich gefragt, wie es Menschen geben kann, die solche Entscheidungen tragen, mittragen oder sie anschießend bereit sind ausführen. Der Patriarchale Auftrag, den Besitz stets zu vermehren, und sich gegenüber anderen durchzusetzen zu müssen, liefert nur einen Teil der Antwort. Man könnte all dies tun und dennoch versuchen so respektvoll wie möglich mit dem Leben (wozu wir doch selber gehören) und den natürlichen Ressourcen umzugehen, die uns doch schließlich am Leben erhalten. Doch warum existieren diese Skrupel nicht? Reine Unkenntnis können wir in der heutigen Informationsgesellschaft doch eigentlich nicht mehr vorschützen.
Ich bin zu folgendem Schluss gekommen: Die zunehmende Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung sowie die Einbettung in eine künstlich geschaffene Medienwelt bewirken eine nachhaltige Loslösung der Menschen aus Ihrer natürlichen Umwelt. Unsere Nahrung ist entweder hochgradig vorverarbeitet, oder sogar synthetischer Art (Süßstoffe, Geschmacksverstärker, Konservierungsmittel). Immer weniger Menschen beteiligen sich selber an der mehrschrittigen Verarbeitung und Zubereitung der Nahrung von ihrer Gewinnung bis hin zu ihrem Erscheinen auf einem Teller. Die wenigsten Menschen haben die Nahrungsmittel, die sie verzehren, jemals in der Natur wachsen sehen oder schon mal selber in ihrer Urform berührt bzw. gestreichelt. Immer mehr Menschen begeben sich zur Erholung in künstliche Umgebungen, wie z.B. Wellness-Bereiche, Fitness-Studios und Shopping-Center oder surfen zur Entspannung im Internet. Auch Urlaube werden zum großen Teil in naturfernen Hotelanlagen verbracht. Unsere Gehirne werden aus den Medien fast ausschließlich mit vorgefilterten und gezielt modifizierten Informationen gefüttert. Kaum etwas von dem, was wir aufnehmen, ist noch an seinem existenziellen Ursprung. Nichts wird angenommen wie es ist, nahezu alles wird zwanghaft verändert. Und über das, was nicht verändert werden kann, wird sich geärgert (z.B. das Wetter).
All das entfremdet uns mehr und mehr von der Natur und somit von Mutter Erde. Und diese Loslösung findet nicht nur körperlich, sondern auch emotional statt. Wir stehen im übertragenden Sinne nicht mehr mit beiden Füssen fest auf der Erde, sondern wir sind förmlich abgehoben und schweben ziel- und haltlos in uns umgebenden Blasen aus künstlich geschaffenen Bedürfnissen, künstlich geschaffenen Umgebungen und technischen Krücken. Wir befinden uns nicht nur in diesen Blasen, sondern auch unser Gefühlsleben spielt sich darin ab und es endet an den Rändern der Blase. Blasen, die jederzeit platzen können, da sie mit den Realitäten unserer Mutter Erde wenig zu tun haben. Das Jahrtausende währende Patriarchat mit seinen weitreichenden Konsequenzen, die kurioserweise als „Fortschritt“ oder „Wohlstand“ bezeichnet werden, hat die meisten von uns zusehends von Mutter Erde losgelöst.
Die meisten von uns hecheln durch eine anstrengende Arbeitswoche, um dann am langersehnten Wochenende alles nachzuholen, was man vernachlässigt hat: Familie, Freunde, Haushalt, Besorgungen – sich selber. Wir werden mit Werbungsprospekten, Spam-Emails oder SMS überschwemmt, die wir nie haben wollten und ärgern uns darüber, dass die Technik um uns herum immer wieder versagt und wir viel Zeit darin investieren müssen, oder immer wieder auf Hilfe angewiesen sind. Wir spüren, dass uns die Technik in Abhängigkeiten getrieben hat, die uns viel mehr beschäftigt, belastet und permanent ablenkt, als dass sie uns dienlich ist. Das Internet, das Fernsehen und das kulturelle Angebot der urbanisierten Gesellschaft bieten uns so unglaublich viel Angebot für Ablenkung und Zerstreuung, dass wir darin fast verloren gehen und kaum filtern und bewerten können, was noch gut und was schon schlecht für uns oder unsere Kinder ist. In der Folge konsumieren wir tendenziell kritiklos und ergeben uns wehrlos dieser erdrückenden Informationsflut. Die vielen Nachrichten, die uns aus aller Welt über die vielfältigen Medien erreichen, handeln von Verbrechen, Gewalt, Unfällen und Naturkatastrophen und überfordern unsere Empfindungsfähigkeit und unsere Empathie-Fähigkeit bei weitem. Infolgedessen schützen wir uns dagegen und machen uns emotional hart und kalt, lassen die Gefühle nicht mehr an uns heran. Darunter leidet unsere Handlungs- und Hilfsbereitschaft gewaltig, da wir in eine Haltung der Hilflosigkeit und Resignation geraten.
Vom Standpunkt der Evolution aus betrachtet lebten Menschen (wie andere Primaten auch) in recht kleinen überschaubaren Gruppen zusammen. Zwischen den meisten Gruppenmitgliedern bestanden verwandtschaftliche Beziehungen untereinander. In diesem Verbund wurde gemeinsam gelebt, gearbeitet, gesammelt, gejagt, später auch Boden bestellt oder Vieh gezüchtet. Insofern hat man in diesem Verbund auch immer genügend Zeit für Beziehungspflege gehabt. Die Beziehungen waren eng und für das Überleben notwendig. Gegenseitige Unterstützung war eine Selbstverständlichkeit. Die Verbindung zur Natur und ihrem Rhythmus war innig, das Verhältnis von Körper und Geist ausgewogen und gut integriert. Die vorhandenen Sinnesreize waren intensiv, aber nicht überzählig oder verwirrend. Die Menschen empfanden Glück darin genügend Nahrung, Wärme und den Schutz der Gruppe zu erhalten sowie Zuneigung, Liebe und Sexualität frei ausleben zu können. Die übrige Zeit (insbesondere in langen Wintern) konnte mit Handwerk, Kunst und Spiel aufgefüllt werden. Dieses Leben im Kontext kleiner Systeme, in denen die Konsequenzen eigenen Handelns erfahrbar und erlebbar bleiben, ist es, wofür Menschen mit ihren kognitiven Möglichkeiten ursprünglich geschaffen sind.
Eingebettet in eine ungeheuerlich komplexe, globalisierte Industriegesellschaft, in der weder der Weg dessen, was wir konsumieren, noch der Weg dessen, was wir wegwerfen, nachvollzogen werden kann, gewinnen wir weder ein tiefes Verständnis davon, noch übernehmen wir Verantwortung dafür. Um dieser Komplexität Herr zu werden arbeitet unser Gehirn mit symbolhaften Abstraktionen, um diese auf ein greifbares Maß zu reduzieren. Dabei werden natürlich die Details ausgeblendet. Gerade dieser Wirrwarr von Abstraktion ist es, der uns Gesamtzusammenhänge verschleiert und irgendwann nicht mehr hinterfragen lässt. Wer wäre schon in der Lage die vielfachen Einflüsse und deren Konsequenzen tatsächlich zu durchschauen, die unser komplexes Leben voller künstlicher Einflüsse und chemischer Substanzen charakterisieren. Allein z.B. die Ursache für die Zivilisationskrankheit „Allergie“ zu finden, tut man sich schwer. Vor 200 Jahren war sie noch kein Thema. Meistens endet die Ursachenforschung an einem neuerlichen Symptom, das dann zur Ursache erklärt wird.
Hand aufs Herz, wenn Sie etwas scheinbar so harmloses tun, wie zum Beispiel am Bahnhof einen Becher Kaffee zu kaufen, denken sie dabei daran, dass Mehrzahl der auf unserer Erde lebenden Menschen keinen Zugang zu sauberen Trinkwasser hat? Oder geht ihnen dabei die Hormon- und Schwermetallbelastung des Grundwassers, mit dem der Kaffee bereitet wurde, durch den Kopf? War es Ihnen egal, ob das Wasser für den Kaffee ggf. mit Atomstrom erhitzt wurde? Oder hinterfragen sie, ob der Becher wirklich rückstandsfrei „recycled“ werden kann, bzw. ob der Plastikdeckel des Bechers möglicherweise mit Erdöl aus der Arktis, einem der letzten bisher unberührten Gebiete dieser Erde hergestellt wurde? Haben sie vielleicht sogar auf den Deckel und den Rührstab verzichtet um Abfall zu sparen? Nicht? Dann könnte der hölzerne Rührstab aus einer der neuerdings wieder abgeholzten Buchen heimischer Wälder gefertigt sein. Und haben sie daran gedacht, dass die Kaffeebauern in den Herkunftsländern so wenig an ihrem Kaffee verdienen, dass sie trotz der Knochenarbeit in schlimmster Armut leben müssen? Oder daran, dass die Abwässer, die nach dem Kaffeegenuss durch Sie selber entstehen, aufwändig unter Einsatz von Energie und Hochtechnologie wieder gereinigt werden und wie und wo sie wieder ins Grundwasser gelangen? Vermutlich haben sie das alles nicht. Sie haben wahrscheinlich ganz einfach einen Becher Kaffee genossen und waren schon damit beschäftigt ihren anstehenden Geschäftstermin vorzubereiten, wie es sich für einen Menschen, der ja für kleine, überschaubare Systeme geschaffen ist, gehört. Sie brauchen jetzt kein schlechtes Gewissen zubekommen, denn das war nicht meine Absicht. Mir jedenfalls wäre das alles auch nicht in den Sinn gekommen, denn es hätte jeden zeitlichen Rahmen gesprengt und meine Empathie-Fähigkeit maßlos überfordert, mit meinem Becher Kaffee die arktischen Eisbären zu bedrohen, die kolumbianischen Kaffeebauern auszubeuten, die heimischen Buchenwälder zu gefährden sowie mich und meine Lieben der Gefahr eines atomaren Supergaus auszusetzen. Also blende ich das alles aus und trinke einfach nur Kaffee. Hätte ich es nicht ausgeblendet, hätte ich mich für ein anderes Getränk entschieden und gerate damit in eine neuerliche Komplexitätskette von moralischen Zwickmühlen.
Ein Leben in einer patriarchalen Industriegesellschaft bietet einem kaum Möglichkeit ihr zu entkommen. Jede noch so engagierte ökologisch-alternativ orientierte Mutter wird irgendwo zwischen die Zahnräder der Konsumgesellschaft geraten und zähneknirschend ihre Bio-Äpfel in einer Plastiktüte in die Hand gedrückt bekommen, während ihr behütetes, sorgsam mit Bio-Vollwertkost ernährtes Kind in einem unbemerkten Augenblick einen vor Chemikalien nur so strotzenden Dauerlutscher geschenkt bekommt, der im Dunkeln leuchtet und die Zunge tagelang grün färbt. Aber schauen wir noch einmal kurz auf das Leben unserer Ahnen, einem Leben in einer natürlichen Umgebung mit Bodenhaftung, eingebunden in den Kreislauf der Natur und mit ihr verschmelzend, einem Leben, das tatsächlich „erlebbar“ ist und uns Mensch sein lässt. Wenn wir uns umsehen, wer führt in der westlichen, so „fortschrittlichen“ Welt auch nur annähernd ein solches Leben? Niemand. Wenn ich mich umsehe, sehe ich immer wieder unzufriedene, neurotische, hartherzige, rachsüchtige, suchtkranke, egoistische, manisch versessene, gewalttätige, fettleibige, magersüchtige, depressive, geistig oder körperlich verkümmerte Menschen. Das waren sie aber nicht von Geburt an, sondern es sind die vielfältigen seelischen und körperlichen Folgeerscheinungen einer ansteckenden Krankheit namens „Patriarchitis“, die am Fließband einsame, verletzte Menschen ohne Bodenhaftung produziert. Wir Menschen der patriarchalen Industriegesellschaft haben uns losgelöst von Mutter Erde, der Quelle unserer Existenz. Die Loslösung von Mutter Erde ist auf Dauer tödlich für alles Leben, das gegenwärtig auf diesem Planeten existiert.
Herzlichst,
Anatol Stein
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